Den Riesen in Dir zum Wachsen bringen

Florian Kretzschmar, Lehrer & Lernraumentwickler

Ein unerschütterlicher Anstifter.

Deutscher Schultoiletten Gipfel in Berlin, Konvent der Baukultur in Potsdam, #learntec in Karlsruhe - mit seinen Impulsen holt Florian Kretzschmar die Menschen ab. Du hast mich unglaublich bestärkt!, ist die Rückmeldung, die Florian oft zu hören bekommt und über die er sich wirklich freut. Denn dafür ist er unterwegs: Andere dazu einzuladen, Möglichkeitsräume zu finden - auch in manchmal engen Rahmenbedingungen. Und die sind im Bereich Schulbau nicht selten. Doch wer Florian erlebt, weiß: Er kann Menschen dafür gewinnen, sich einen Weg vorzustellen, wo eben noch keiner zu sehen war. Florian Kretzschmar ist Lehrer, Schulbauberater, zertifizierter Lernraumentwickler, Experte für Pädagogische Architektur und: ein unerschütterlicher Anstifter. So beschreibt er sich selbst und es wirkt, als hätte man ihm das in die Wiege gelegt. Dabei gab es ganz andere Zeiten.

 

Früher habe ich gedacht, ich kann nichts ändern

Florian studiert Lehramt für die Sekundarschule 1 und arbeitet nach seinem Referendariat 2010-2012 an der Gemeinschaftshauptschule in Siedlinghausen. Aus der Gemeinschaftshauptschule wird eine Verbundschule. Florian spürt in dieser Zeit zunehmend eine leichte Unzufriedenheit mit den Entscheidungsspielräumen, die ihm als Lehrer zur Verfügung stehen. Als die Schule erneut mit einer weiteren Verbundschule zusammengelegt wird, soll auch ein Standort weichen. Die Kommunen treffen eine Entscheidung und die Schule muss umziehen, mit der Konsequenz, dass mit den umgesetzten Baumaßnahmen auch pädagogische Spielräume begrenzt werden. Dass hier nicht aus Sicht der Schüler*innen oder der Pädagog*innen gedacht wurde, sondern vor allem politische Hintergründe ausschlaggebend waren, ärgert Florian. Und aus diesem Ärger erwächst das, was er im Nachhinein den Wendepunkt seines Lebens nennt.

Statt zu verzweifeln, beschließt Florian sich zu engagieren - angetrieben von dem Gedanken, aus der unschönen Situation mindestens eine annehmbare zu machen. Er beschäftigt sich intensiv mit Schulraumgestaltung, liest unzählige Bücher und Aufsätze und ihm begegnet zum ersten Mal der „Raum als dritter Pädagoge“. Sein Wissen gibt er ins Kollegium weiter, es gründet sich eine pädagogische Baugruppe. Florian gelingt es zu erwirken, dass diese Baugruppe in Entscheidungsprozesse einbezogen wird. Aus seiner heutigen Sicht entspricht das eher einer Vorstufe von Partizipation, denn die Interessen der Schüler*innen wurden nicht hinreichend berücksichtigt - aber immerhin, die Lehrkräfte konnten im Rahmen beschränkter Möglichkeiten mitgestalten, auch wenn es sich nur um kleinere Eingriffe in die Grundstruktur, wie das Herstellen von Sichtbeziehungen handelte.

Unsere Entscheidungen hatten damals kein großes Gewicht. Aber uns wurde bewusst, wie wichtig es ist, Standort und Pädagogik zusammenzudenken.

 

Die Zukunft möglich machen

Irgendwann hat die „Selbstprofessionalisierung“, wie Florian diese Zeit nennt, ein sehr hohes Level erreicht. Der Wunsch wird immer stärker, sich dieses Wissen durch ein Zertifikat bestätigen zu lassen und vor allem: noch mehr von anderen zu lernen. Auf einen Zettel schreibt er seinen Traum und hängt ihn an ein Mobile über seinem Schreibtisch: 

Ich möchte ein Berufsbild entwickeln für Lehrende als Schulraumbeauftrage, wo es um die Themen Unterrichtsentwicklung und Raum geht an der eigenen oder einer anderen Schule. Ich möchte, dass diese Schulbaubeauftragten aus dem System heraus Veränderungen bewirken können.

Schnell wird er fündig: Im Pilotprojekt der Montag Stiftungen werden „Schulbauberater*innen“ ausgebildet. Doch aus dem Qualifizierungsvorhaben wird nichts, denn das Projekt ist bereits ausgelaufen und findet zunächst keine Verstetigung in Deutschland. Lange Zeit verbringt Florian auf der Warteliste, fragt immer wieder nach und erhält eine abschlägige Antwort. Bis im Herbst 2017 das Telefon klingelt und sich die freundliche Mitarbeiterin meldet, die sein Anliegen und seinen Namen mittlerweile sehr gut kennt. Sie hat den Zertifikationsstudiengang PULS+ project "Lernen und Raum Entwickeln" an der Universität Innsbruck/ Kunstuniversität Linz ausfindig gemacht, der genau das verspricht, wonach Florian jetzt so gesucht hat: ein Kooperationsstudiengang in der DACH-Region, in dem Architekt*innen, Pädagog*innen und Verwaltungsmitarbeiter*innen gemeinsam lernen. 

Bewerbungsfrist: noch eine Woche. Unzählige Dokumente sind zu erbringen, Motivationsschreiben und eine Antwort auf die Frage: Wie wollen sie sich selbst in das Studium einbringen. Fragen, die sich Florian in seinem bisherigen Lehrerleben noch nie gestellt hat. Und er will: sich einbringen, mit anderen lernen, diesen Studiengang unbedingt. Trotz der hohen Kosten, trotz der intensiven zeitlichen Ressourcen, trotz der fehlenden Unterstützung seines Schulleiters, der nicht müde wird zu betonen, dass er Florians Entscheidung nicht mittragen wird. Welche Perspektive er sich denn aber verspräche, die diese hohe Investition rechtfertigt, fragt sein Bruder ihn. Keine Perspektive. Ich weiß nur, dass ich das unbedingt will, sagt Florian.

Was in den nächsten sechs Jahren alles aus dieser Entscheidung erwachsen wird, ahnt er nicht. Er hat einen Traum und Vertrauen in den Weg, vielleicht auch eine Intuition, die ihn auf diesen Weg geführt hat. Auf jeden Fall heraus aus der Starre, der Unzufriedenheit und der empfundenen Unmündigkeit. Und er spürt in sich einen Motor, der ihn immer wieder nach einem gangbaren Weg suchen lässt, auch wenn sich eine Situation auf den ersten Blick als scheinbar unveränderlich erweist. Dieses „Möglichmachen“ wird zu seiner Lebensmaxime. Auch das weiß er in diesem Moment noch nicht, spürt es vielleicht schon. So wie vieles in Florians Leben sich zunächst auf einer intuitiven Ebene entwickelt. 

 

Aus Zweifeln zum Mut 

Florian wächst in Brilon auf, wo er heute noch mit seiner Familie wohnt. Sein Vater stirbt sehr früh und seine Mutter ist für zwei Söhne allein verantwortlich. Als Grundschullehrerin kann sie aber für den Lebensunterhalt sorgen und findet viel Unterstützung bei der Familie. Als Florian nach der 12. Klasse das Abitur schmeißen will, setzt sich der Großvater morgens in Mannheim in den Zug nach Brilon und führt ein ernsthaftes Gespräch mit ihm: Du wirst Deinen Weg gehen und ich werde Dich in jeder Hinsicht unterstützen, aber damit Du frei bist in deinen Entscheidungen, mach Deinen Abschluss. Florian fühlt sich ernst genommen und spürt das Vertrauen in seine Fähigkeiten. Er schafft das Abitur, studiert zunächst an der Sporthochschule Köln auf Diplom und später in Wuppertal auf Lehramt.

Eines der größten Geschenke seines Lebens sind die Menschen, die Dinge in ihm gesehen haben, die er selbst nicht erkannt hat und ohne die er seinen Weg nicht so mutig gegangen wäre. Der Großvater ist einer davon. Ein anderer steht mit ihm an einem späten Sommerabend 2017 in einem Torbogen des Klosters Fraueninsel am Chiemsee. Florian zweifelt sehr an seinen Handlungsspielräumen als Pädagoge und hat auf die Frage, welchen Beitrag er zur Veränderung leisten kann, einfach keine Antwort. Du bist genau richtig, sagt ihm Franz Ryznar. Du kannst gar nicht richtiger sein! Aus den Zweifeln wächst Mut und dann Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Und davon möchte er heute etwas weitergeben. Denn er hat schon oft erfahren, als Lehrer, als Vater, als Impulsgeber, wozu Menschen fähig sein können, wenn sie das Vertrauen spüren, dass jemand an sie glaubt. Josef Watschinger, einer der Gründer von PULS schreibt Florian als Widmung in sein Buch Lernen und Raum entwickeln: In Dir wohnt ein Riese. Bring ihn zum Wachsen.

 

Von Ego zu Eco

Genau das hat Florian in den letzten Jahren getan. Aus Verantwortung und Respekt sich selbst und den Menschen gegenüber, die an ihn geglaubt und ihn unterstützt haben. Aber vor allem aus Verantwortungsbewusstsein gegenüber dieser Gesellschaft. Von Ego zu Eco - ist sein Leitspruch. Nur mit diesem konsequenten Verantwortungsdenken wird es eine gute Zukunft für den Bildungssektor und die demokratische Gemeinschaft geben, davon ist Florian überzeugt. Auf seinen zahlreichen - auch internationalen - Lernreisen zu schulischen Lernorten sind ihm in den letzten Jahren viele Menschen begegnet, die diese Verantwortung leben und an der Umsetzung einer positiven Version von Zukunft arbeiten. Und das macht Hoffnung! 

Die Zeit für Veränderung war noch nie so gut wie jetzt.

Auf seinem Zettel steht darum für die nächsten Jahre ein neuer Wunsch. Diesmal ist es kein Traum, sondern eine ganz konkrete Vorstellung: die von einem globalen Netzwerk von Lernentwicklungsberater*innen, die die gemeinsame Vision und Expertise in die lokalen Kontexte tragen. 

Ich möchte dranbleiben, sagt Florian Kretzschmar. Und wer ihn kennt weiß: Daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. 

 

Wer mehr über Florians Arbeit erfahren möchte, mit ihm in Kontakt treten oder einen Kommentar zu diesem Artikel schreiben möchten, kann sich mit ihm auf diesen Kanälen vernetzen:

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